Epigraphik 1

Stein.Schrift.Geschichte

Auf Papyri, Holz- oder Wachstafeln, auf Wänden oder Gefäßen, rot ausgemalt auf Statuensockeln auf dem Forum oder Grabmonumenten vor den Stadtmauern, vergoldet auf Tempeln oder Ehrenbögen, für den Moment oder für die Ewigkeit gemacht – es sind die Inschriften, die den Alltag in einer römischen Stadt wieder lebendig werden lassen: Kleine Bleistreifen mit magischen Formeln verfluchen einen unliebsamen Nachbarn, ein bronzenes Militärdiplom berichtet von der Vergangenheit seines Beisitzers als Veteran, Stempel auf Wasserleitungen oder Ziegeln verweisen auf die Tätigkeit römischer Beamten.

Epigraphik – abgeleitet vom griechischen Verb 'epi-gráphein' – bezeichnet den Vorgang des Schreibens, auf Stein, aber auch auf anderen Materialien wie Tonscherben oder Holz. Man unterscheidet aufgrund der verwandten Technik drei Inschriftentypen – gemeißelte, geritzte (Graffiti) oder gemalte ('Dipinti'). Worte und Sätze werden bei lateinischen Inschriften meist nicht getrennt, weshalb man auch von scriptio continua spricht; und es werden vielfach Abkürzungen verwendet.

Die Leserichtung der Inschriften ist für gewöhnlich von links nach rechts; selten verläuft jede zweite Zeile in die Gegenrichtung. In diesem Fall spricht man vom boustrophedon – 'wie der Ochse beim Pflügen wendet' – oder Schlangenschrift. Eine Rottenschrift liegt vor, wenn die Buchstaben senkrecht untereinander ausgerichtet sind – auch stoichedon -; in einer Publikation gibt die auf stoich. folgende Zahl dann die Anzahl der Kolumnen an. Während die inscriptio, die eigentliche Inschrift, so in erster Linie für philologische Fragestellungen Aussagekraft besitzt, wird sie als titulus, verbunden mit ihrem Trägermedium, auch für die Alte Geschichte und die Archäologien interessant.

Herstellung...

Auf einem stadtrömischen Grabaltar aus der späten Kaiserzeit finden sich die Abbildungen des antiken Handwerksgerät, das zur Herstellung der Inschriften verwendet wurde. Sie lassen uns erahnen, dass der Steinmetz (faber lapidarius) in seiner Werkstatt (officina) einiges zu tun hatte, eher er Hammer und Meißel in die Hand nehmen konnte. So benötigte er das Lot oder die Waage, um zunächst die Fläche gleichmäßig zu gestalten.

Die Zirkel und das Rechteck-Lineal verwendete er, um das Rahmenwerk aus Quadraten, Halbquadraten und Kreisen zu schaffen, das diesen Buchstaben die Form gab.
Manchen ging diese geometrische Reglementierung aber auch zu weit, sodass Buchstaben beizeiten einen eigenen Charakter erhielten. Diese Tendenz zur Individualität lässt sich an dieser Inschrift auf dem Titusbogen sehr gut nachvollziehen. Während einige Buchstaben (hier orange) noch der traditionellen Geometrie folgen, weichen immer mehr Buchstaben von diesem Rahmenwerk ab (hier grün).

...Editionen

1931 beschloss der internationale Orientalistenkongress die Einführung eines einheitlichen Systems für die Edition von Inschriften, Papyri und Handschriften. Der Name Leidener Klammersystem ist auf den Tagungsort dieses Kongresses in den Niederlanden zurückzuführen. Das System, welches die folgenden Zeichen umfasst, ermöglicht eine genaue Transkription der Inschriften für die Editionen.

Ergänzung
Auflösung von Abkürzungen
Rasur
Zerstörter und nicht gedeuteter Buchstabe
Lücke – Zahl der verlorenen Buchstaben bekannt
Lücke unbestimmter Ausdehnung
Zusatz oder Verbesserung des Herausgebers
Tilgung durch den Herausgeber

...das System in der Anwendung

Diese Inschrift aus Vicus Beda (Bitburg), das in der römischen Kaiserzeit ein Zwischenhalt auf der Straße von Trier nach Köln war, zeigt uns, wie das Leidener Klammersystem angewendet werden kann. Auf der Steintafel sichtbar sind diese Buchstaben. Gerold Walser hat den Text in der unten stehenden Form rekonstruiert und übersetzt.

I N H D D NVM AVGG FARA REM EXAEDIFICAVERVNT SVO IN ENDIO IVNIORES VICI HIC COSI STENTES LOCO SIBI C CESSO ET DONATO A VIKAN EDE NSIBVS DEDICAT M EFFEC TVM I IDVS IAS IMP D AVG ET TITIANIO CO CU SECVNDIO SECV

CIL XIII 04131

Die eckigen Klammern am Ende der 1. Zeile verweisen auf die Ergänzung, die der Epigraphiker hier vorgenommen hat: FARA REM wird bei ihm zu FARA[TO]REM. Ob seine Lesart, dass die Inschrift den Bau eines Beobachtungs- oder Signalturms (also eines farator) zum Schutze des Ortes Beda thematisiert, richtig ist, bleibt zu diskutieren. Eine mögliche Veränderung könnte man etwa in Betracht ziehen, wenn man vor dem Monatsnamen in der 7. Zeile, der von Gerold Walser als [MA]IAS ergänzt wird, die Reste eines L erkennt – dann wäre der Monat Juli gemeint gewesen. Einigkeit dürfte hinsichtlich der Ergänzung des Namens PHILIPPO am Anfang der vorletzten Zeile bestehen, die durch die doppelten eckigen Klammern als Rasur, also eine bewusste nachträgliche Unlesbarmachung schon in der Antike, gekennzeichnet sind. Denn weitere in der Inschrift genannte Namen und Ämter helfen bei ihrer Datierung in das Jahr 245 n. Chr. und weisen auf die Zeit voraus, in der Philippus Arabs gestürzt und aus offiziellen Dokumenten getilgt werden sollte.

Corpora...

Alle über die Jahrhunderte gefundenen Inschriften wurden und werden in Corpora zusammengestellt und ediert. Über Neufunde informieren Zeitschriften wie zum Beispiel die L’Année épigraphique oder auch der Guide de l'épigraphiste.

Bildnachweise:
Titelbild: Konstantinbogen, unter: Pixabay
Inschriften: Stadtrömischer Grabaltar: G. Zimmer: Römische Berufsdarstellungen, Berlin 1982, S. 168f. / Nr. 92 (= Archäologische Forschungen; 12). Mit freundlicher Genehmigung des Autors; Titusbogen, CIL VI 945, Vincent Ramos, unter: Wikimedia; Inschrift aus Victus Beta, CIL XIII 04131 / ILS 7056, C. Witschel, Foto-ID: F025911, unter: Epigraphische Datenbank Heidelberg