Mythos
Roms Stadtgeschichte ist so lang, dass sie sprichwörtlich geworden ist. „Nicht an einem Tag“ sei sie erbaut worden. Und obwohl man Rom schon in der Antike auch als „ewige Stadt“ bezeichnete, so hat ihre Geschichte doch einen Anfang. Die Römer datierten diesen Anfang der Geschichte ihrer Stadt traditionell in das Jahr 753 v. Chr. Jahrhunderte später, als niemand mehr genau wusste, wie es zu ihrer Gründung gekommen war, schufen sie so einen Mythos. Er beginnt nicht erst mit Romulus und Remus und nicht in Italien, sondern in Troja, in der heutigen Türkei.
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Als die Griechen die Stadt am Ende des zehnjährigen Trojanischen Krieges einnahmen, floh der junge trojanische Held Aeneas aus seiner Heimatstadt. Seinen alten Vater Anchises trug er auf seinem Rücken aus der brennenden Stadt. Seinen Sohn Ascanius nahm er bei der Hand und rette auch den Schrein der Penaten, seiner Schutzgötter. Mit dieser Szene beginnen all die Ereignisse, die schließlich zur Gründung Roms führten.
Zunächst allerdings musste Aeneas von der Westküste Kleinasiens aus eine Irrfahrt überstehen, die der des Odysseus in nichts nachsteht. Von den Göttern wurde ihm geweissagt, sein Sohn werde schließlich in Italien, genauer in Latium, eine Stadt gründen. Seine Nachkommen sollten von hier aus einmal die Welt beherrschen.
Dieses Orakel gibt der Dichter Vergil wieder: Verg. Aen. 8,42-48 (Übers. J. Götte) „Bald wirst du, damit du nicht glaubst, dich narre ein Traumbild, unter den Eichen am Strande entdecken die mächtige Wildsau Dreißig Frischlinge warf sie soeben, dort wird sie liegen, weiß am Boden gestreckt und weiß um die Euter die Ferkel. Hier wird Raum für die Stadt, hier sichere Rast von der Mühsal. Drei Jahrzehnte danach wird hier Askanius gründen Jene Stadt die da trägt, den strahlenden Beinamen Alba.“
Jahrhunderte später hieß die Königstochter Rhea Silvia. Als diese, obwohl sie als Priesterin der Göttin Vesta zur Keuschheit verpflichtet war, Zwillinge gebar, behauptete sie, ihm Schlaf von Mars, dem Kriegsgott, vergewaltigt worden zu sein. Über die Ereignisse berichtet der Historiker Titus Livius folgendermaßen:
Liv. 1,4,2 (Übers. H. J. Hillen) „Der Vestalin wurde Gewalt angetan, und als sie Zwillinge zur Welt gebracht hatte, gab sie Mars als den Vater ihrer zweifelhaften Nachkommenschaft an, sei es, daß sie wirklich daran glaubte, sei es, weil es ehrenvoller war, einem Gott die Schuld zu geben.“
Da ihr Vater von seinem eifersüchtigen Bruder seines Thrones beraubt war, wurden ihre Kinder im Tiber ausgesetzt. Wie die beiden Säuglinge in der Wildnis überlebten und schließlich gerettet wurden, ist legendär und wird uns ebenfalls von Livius berichtet:
Liv. 1,4,6 (Übers. H. J. Hillen) „Es hält sich die Sage, als das leichte Wasser den schwankenden Trog, in dem die Knaben ausgesetzt waren, aufs Trockene gesetzt hatte, habe eine durstige Wölfin aus den umliegenden Bergen auf das Wimmern der Kinder hin ihren Weg geändert. Sie habe den Kindern ihre Zitzen gereicht und sei dabei so sanft gewesen, daß der Aufseher der königlichen Herden – man sagt er habe Faustulus geheißen – sie fand, wie sie die Knaben mit der Zunge leckte.“
Als Erwachsene rächten sie das Unrecht, das an ihrer Mutter und ihnen begangen worden war, und verhalfen ihrem Großvater zu seinem rechtmäßigen Thron. In guter Tradition gründeten auch die beiden Enkel des Königs nun eine Stadt.
Doch in einem Streit beim Bau der Stadtmauern tötete Romulus seinen Bruder und wurde so zum alleinigen Gründer der Stadt. Auch die Entscheidung über den Namen der Stadt war damit gefallen, wie Livius festhält:
Liv. 1,7,3 (Übers. H. J. Hillen)
So gewann Romulus allein die Herrschaft; die neugegründete Stadt wurde nach ihrem Gründer benannt. Ihr Name lautete fortan Roma.
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Zur gewaltsamen Gründung der Stadt gehört neben dieser Episode auch der Raub der Frauen der benachbarten Sabiner, die einmal zu einem Fest nach Rom gekommen waren. Erneut informiert uns Livius:
Liv. 1,9,1 u. 1,9,10 (Übers. H. J. Hillen):
Schon war das römische Gemeinwesen so stark, daß es jeder der Nachbargemeinden im Krieg gewachsen war. Aber da es an Frauen fehlte, konnte die Größe nur ein Menschenalter andauern; [...] auf ein Zeichen hin liefen die jungen Römer nach allen Seiten auseinander, um die Mädchen zu rauben.
Und obwohl Romulus mit den Sabinern anschließend Frieden schloss, soll er als Tyrann von den Römern selbst erschlagen worden sein. Sein kriegerisches Wesen allerdings sollten sie verehren, indem sie ihm einen Tempel setzten und ihn unter dem Namen Quirinus als Gott verehrten.
Die Anfänge menschlicher Besiedlung auf dem Gebiet des heutigen Rom liegen archäologischen Erkenntnissen zufolge in der frühen Eisenzeit (10.-9. Jh. v. Chr.). Lehmhütten, die in dieser Zeit die ersten Bewohner des Areals beherbergten, sind allerdings nur auf einigen der berühmten Sieben Hügel (Septimontium) gefunden worden, vor allem auf dem Kapitol und Palatin. Die sumpfige Talsenke eignete sich dagegen zunächst lediglich als Nekropole, also als Ort zur Bestattung der Toten. Auf den Hügelkuppen schlossen sich die Menschen zu kleineren Siedlungen von kaum mehr als 50 Personen zusammen, die zunächst voneinander getrennt blieben und unabhängig Subsistenzwirtschaft betrieben. Lediglich im Bereich der Totenbestattung scheint es durch gemeinsam genutzte Nekropolen bereits zu einer Verflechtung der Siedlungen gekommen zu sein.
Die Überreste einer etruskischen Hütte der sogenannten Villanova-Kultur aus der Eisenzeit (8. Jh.) zeigen die einfachen und beengten Verhältnisse, in denen die ersten Bewohner des späteren Rom lebten. Sie ernährten sich von landwirtschaftlicher Arbeit und Viehzucht und kannten noch kein entwickeltes Handwerk. Es handelt sich um eine Hütte wie die am südlichen Palatin, in der Faustulus die Zwillinge Romulus und Remus großgezogen und Romulus auch später als König gelebt haben soll.
Über das Aussehen der Hütten sind wir durch Ascheurnen informiert, die als Miniaturnachbildungen der Wohnhäuser gestaltete wurden. Neben ihrem künstlerischen Wert hatten diese Objekte zugleich also einen praktischen Nutzen im Rahmen der Totenbestattung. Gemeinsam mit dem archäologischen Befund erlauben sie eine Rekonstruktion frührömischer Wohn- und Lebensverhältnisse. Durch solche Rekonstruktionen zeichnet die Archäologie ein anderes Bild vom Prozess der Stadtgründung und -werdung als die schriftliche Überlieferung des Mythos. Doch auch sie kann sich der mythischen Überlieferung nicht gänzlich entziehen. So wird die Behausung auf dem Palatin, die hier als Modell zu sehen ist, immer noch als Hütte des Romulus bezeichnet.
Der sogenannte Lapis Niger. Die schwarzen Marmorplatten, die dem Ort zu seinem Namen verhalfen, stammen erst aus dem 1. Jh. v. Chr. Die Anlage, die unter der Abdeckung gefunden wurde, ist allerdings wesentlich älter und über eine Treppe zu erreichen, die für heutige Besucher allerdings nur selten geöffnet ist. Dass durch das auffällige Denkmal die Stadtgründung auf dem Forum erinnert wurde, bestätigt aus wissenschaftlicher Perspektive die große Bedeutung des Platzes für die Stadtwerdung Roms.
Die ursprüngliche Bedeutung des lapis niger war schon in der Antike nicht mehr klar. Teils hielt man ihn für den Ort, an dem Romulus den Tod gefunden hatte, teils für sein Grab oder das des Hirten Faustulus. Auch als Markierung der Stelle, an der der Aufstieg des Romulus zu den Göttern erfolgt war, wurde die Anlage interpretiert. In der Nähe befand sich mit dem Vulcanal, einer Kultstätte für den Gott Vulcanus, ein weiteres Heiligtum, das zu den ältesten Roms zählt. Dass es sich um einen sakralen Ort handelte, belegt eine wohl aus dem 4. Jh. v. Chr. stammende Stele, die unter dem lapis niger gefunden wurde und deren Inschrift als Boustrophedon eine lex sacra, ein religiöses Gesetz, in frühlateinischer Sprache wiedergibt.
quoiho…
(s)akros es
ed sor
sia ias
recei l
Euam
quos r
m kalato
rem ha
od iouxmen
ta kapia dotau
m ite ri
m quoiha
uelod nequ
od iouestod
loiuquiod
Who so ever [will
violate] this [grove], let him
be cursed. [Let no one
dump] refuse [nor throw a
body…]. Let it be lawful for
the king [to sacrifice a cow
in atonement.] [Let him fine]
one [fine] for each [offense].
Whom the king [will fine, let
them give cows.][Let the
king have a ---] herald. [Let
him yoke] a team, two
heads, sterile…Along the
route…[Him] who [will] not
[sacrifice] with a young
animal…in a…lawful
assembly in a grove…
Bildnachweise:
Satellitenansichten - © Google Earth;
Aeneas, Anchises und Ascanius - Wikimedia Commons;
Die Rettung der Penaten - M. H. Crawford: Roman Republican Coinage. Vol. 1, Cambridge 1974, 471, Nr. 458/1; BMCRR East 31 ;
Die Irrfahrt des Aeneas - pelagios.org;
Sauprodigum - Wikimedia Commons;
Von Alba Longa nach Rom - pelagios.org;
Mars und Rhea Silvia - Relief 1; Sarcofago Mattei;
Aureus des Antoninus Pius - KHM;
Von Mars und Rhea Silvia zu Romulus und Remus - SCALA;
Lupa capitolina und die Zwillinge - Wikimedia Commons;
Lupa capitolina und Faustulus - P. Zanker: Augustus und die Macht der Bilder, München (2. Aufl.) 1990, 208, Abb. 158;
Romulus - P. Zanker: Augustus und die Macht der Bilder, München (2. Aufl.) 1990, 205, Abb. 156b;
Anfänge der Besiedlung - Forum Romanum. Zeitreise durch 3000 Jahre Geschichte, Petersberg 2014, 188, Abb. 38;
Etruskische Hütte - Forum Romanum. Zeitreise durch 3000 Jahre Geschichte, Petersberg 2014, 203, Abb. 55.2;
Ascheurne - B. Andreae / A. Hoffmann / C. Weber-Lehmann (Eds.): Die Etrusker. Luxus für das Jenseits. Bilder vom Diesseits, München 2004, 20 bzw. 28;
Rekonstruktion - Forum Romanum. Zeitreise durch 3000 Jahre Geschichte, Petersberg 2014, 202, Abb. 55.1;
Lapis niger - Wikimedia Commons;
Vulkanal - D-DAI-ROM-2008.2290;
Lapis niger, Stele - Wikimedia Commons;
Abklatsch der Stele - R. E. A. Palmer: The king and the comitium. A study of Rome's oldest public document, Wiesbaden 1969, 49.